Auf dem Weg zur Klimaneutralität: Weiterentwicklungsperspektiven für die Nutzung von Herkunftsnachweisen in der Industrie

Dr. Alexandra StylesHamburg Institut

Unternehmen stehen zunehmend in der Verpflichtung, ambitionierte Ziele für die Reduktion von Treibhausgasemissionen umzusetzen. Entsprechende Ansprüche werden nicht nur von der Politik formuliert, sondern auch von Kund:innen, Kapitalgeber:innen sowie Vertragspartner:innen in der Lieferkette.

Insbesondere bei Industrieunternehmen ist davon auszugehen, dass zukünftig der Carbon Footprint von Produkten neben Preis und Qualität zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor wird. Die Einführung von CO2-Grenzausgleichsmechanismen, die von der EU, aber auch anderen Staaten geplant wird, unterstreicht die Relevanz von global abgestimmten Klimabilanzierungsregeln.

Ein wichtiger Faktor hierbei sind harmonisierte Regeln, um die Beschaffung von Energie aus erneuerbaren Quellen nachzuweisen. Erneuerbaren Energien (EE) kommt bei der Umsetzung von Nachhaltigkeits- und Klimaneutralitätsstrategien in der Industrie eine große Bedeutung zu.

Beim Bezug von Strom über Netze der allgemeinen Versorgung haben sich Herkunftsnachweise (HKN) als Nachweissystem etabliert.

Dies orientiert sich an Vorgaben der europäischen Erneuerbare-Energien- und Binnenmarkt-Richtlinien, die – abgesehen von bestimmten Ausnahmen – HKN als Nachweis vorschreiben, um in der Stromkennzeichnung gegenüber Letztverbrauchenden EE-Anteile auszuweisen.

Funktion von Herkunftsnachweisen im liberalisierten Strommarkt

Herkunftsnachweise werden jeweils für die Produktion einer Megawattstunde (MWh) Strom ausgestellt, wobei zentrale Eigenschaften der erzeugten Energieeinheit – wie zum Beispiel Energiequelle, Technologie, Alter, Standort und Förderstatus von Anlagen – festgehalten werden.

Durch die Entwertung von HKN können diese Eigenschaften dem Energieverbrauch bestimmter Kund:innen zugeordnet werden. Zudem wird so sichergestellt, dass die grüne Eigenschaft jeder in das Netz eingespeisten MWh nur ein einziges Mal vermarktet wird. Ausstellung, Übertragung und Entwertung der Nachweise erfolgen digital über zentrale, meist nationale HKN-Register.

Die Übertragung von HKN kann nach dem Book & Claim-Prinzip grundsätzlich unabhängig von der physischen Übertragung von Energie erfolgen. Dies ist insbesondere bei einer netzgebundenen Versorgung relevant, wenn sich der physikalische Weg, den eine Energieeinheit mit bestimmten Eigenschaften nimmt, nicht nachvollziehen oder steuern lässt.

Im liberalisierten Strommarkt sind sowohl die physikalische und kaufmännische Stromlieferung als auch die Lieferung der Stromeigenschaft aufgetrennt (mehr dazu siehe unten). Das Book & Claim-Prinzip ermöglicht es, dass Verbrauchende am Markt eine wirksame Nachfrage nach bestimmten Stromeigenschaften ausdrücken können.

Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie „RED II“ sieht die Einführung von HKN-Systemen auch für Gase wie Biomethan und Wasserstoff sowie Wärme oder Kälte aus erneuerbaren Energiequellen vor.

Bei der notwendigen Entwicklung von HKN-Systemen jenseits des Strombereichs gilt es, die spezifischen Rahmenbedingungen von Gas- bzw. Wärme-/Kältemärkten zu berücksichtigen. Bei Gasen entstehen zudem Koordinationserfordernisse mit dem bestehenden Nachweissystem der Massenbilanzierung.


Funktionsweise des liberalisierten Strommarkts

Die physikalische und kaufmännische Stromlieferung sowie die Lieferung der Stromeigenschaft fallen nur dann zusammen, wenn Stromerzeugungsanlage und Verbrauchsstelle durch eine Direktleitung verbunden sind. Strom, der in ein öffentliches Netz eingespeist wird, nimmt physikalisch den Weg des geringsten Widerstands zur nächstgelegenen Verbrauchsstelle.Um dennoch einen angebots- und nachfrageseitigen Wettbewerb im Strommarkt zu ermöglichen, erfolgt die kaufmännische Abrechnung und Mengensteuerung über sogenannte Bilanzkreise, also Mengenkonten, die zum Zeitpunkt der Lieferung des Stroms viertelstundenscharf ausgeglichen sein müssen.

Das Einhalten der Bilanzkreistreue ist insbesondere bei fluktuierender Erzeugung eine Herausforderung und wird durch vielfältige Handelsbeziehungen zwischen Bilanzkreisen sichergestellt, wozu unter anderem auch kurzfristige Transaktionen am Spotmarkt der Strombörse gehören. Abweichungen müssen durch sogenannte Ausgleichsenergie gedeckt werden. Da sich die Herkunft von Strom sowohl physikalisch im Netz als auch im System der stets auszugleichen Bilanzkreise nicht praktikabel verfolgen lässt, werden Herkunftsnachweise eingesetzt, um die Stromeigenschaft missbrauchssicher und verlässlich zu dokumentieren und damit Ökostrom handelbar zu machen.


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Bedeutung von Herkunftsnachweisen für die unternehmerische Klimabilanzierung

In der Klimabilanzierung können HKN nach den international anerkannten Leitlinien des Greenhouse Gas Protocol genutzt werden, um bei der Anwendung des marktbasierten Ansatzes für „Scope 2“-Emissionen aus eingekaufter Energie eine zuverlässige und eindeutige Zuordnung von Emissionsfaktoren zu bestimmten Verbrauchenden sicherzustellen. Bilanziert werden die Eigenschaften gelieferter Stromprodukte.

Dies ergänzt den ortsbasierten Ansatz, bei dem die durchschnittliche Emissionsintensität des Stroms im öffentlichen Netz, in dem ein Verbraucher verortet ist, zugrunde gelegt wird. Der ortsbasierte Ansatz ermöglicht den Vergleich unterschiedlicher regionaler oder nationaler Energiemärkte, da er bilanziert, welche Anlagen in ein bestimmtes Netzgebiet einspeisen. Ein Bezug von Strom aus erneuerbaren Energien ist jedoch nur passiv möglich, in Höhe des durchschnittlichen EE-Anteils im Netz.

Um aktiv die Emissionen aus dem Stromeinkauf zu senken, haben Unternehmen hier nur die Möglichkeit, ihren Stromverbrauch zu reduzieren, oder in EE-Anlagen im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang zu investieren, bei denen eine Stromlieferung über Direktleitung möglich ist.

Der marktbasierte Ansatz ermöglicht hingegen unter Verwendung von HKN, einen Nachweis über die Eigenschaften vertraglich zugesicherter Lieferungen zu führen und so bewusste Beschaffungsentscheidungen zugunsten klimafreundlicher Stromprodukte oder Stromanbieter treffen zu können.

Auch wenn das GHG Protocol empfiehlt, die Ergebnisse beider Ansätze auszuweisen, ergibt sich durch die faktische Wahlmöglichkeit zwischen orts- und marktbasiertem Ansatz eine Herausforderung für die Klimabilanzierung.

Prinzipiell ist es möglich, den Ansatz zu wählen, der zu einem vorteilhafteren Ergebnis führt. Hierdurch kann es zu einer Doppelbeanspruchung grüner Eigenschaften kommen: Ein Unternehmen, das nur den ortsbasierten Ansatz verwendet, legt seiner Bilanzierung den Erzeugungsmix im örtlichen Netz zugrunde.

Wenn für einen Teil der eingespeisten EE-Erzeugung HKN ausgestellt und entwertet wurden, kann der Fall eintreten, dass diese erneuerbaren Eigenschaften gleichzeitig von einem anderen Unternehmen beansprucht werden, das den marktbasierten Ansatz verwendet und einen Aufpreis für die Beschaffung eines Ökostromprodukts bezahlt.

Für eine transparente Klimaberichterstattung ist es daher dringend empfehlenswert, den ortsbasierten Ansatz UND den marktbasierten Ansatz darzustellen, und bei Unternehmensvergleichen nicht beide Ansätze zu vermischen. Der marktbasierte Ansatz, der Beschaffungsentscheidungen von Stromverbrauchenden abbildet, entspricht dabei der Logik des liberalisierten Strommarkts.

Qualitative Differenzierung der HKN-Nachfrage als wichtige Weiterentwicklungsperspektive

Innerhalb des marktbasierten Klimabilanzierungsansatzes wird die Qualität der bezogenen grünen Energie zunehmend wichtiger.

HKN sind zunächst ein neutrales Nachweisinstrument. Die Informationen auf HKN können aber hinsichtlich des Energiewendenutzens der erzeugten Energie interpretiert und bewertet werden.

Gerade industrielle Großverbraucher können hierbei eine Vorreiterrolle einnehmen, da sie die Möglichkeit haben, mit Stromlieferanten individuelle Vereinbarungen zu beschafften HKN-Qualitäten zu treffen. Auch Power Purchase Agreements, in deren Rahmen direkt mit Anlagenbetreibern eine langfristige Abnahme von HKN vereinbart werden kann, werden künftig vermehrt zum Einsatz kommen.

Hinsichtlich des Energiewendenutzens von Ökostrom spielt das Kriterium der Zusätzlichkeit eine wichtige Rolle: Die Ökostromnachfrage sollte dazu beitragen, dass der EE-Ausbau über den gesetzlichen Förderrahmen hinaus gefördert und beschleunigt wird. Dabei lassen sich grundsätzlich vier Typen von Ökostromqualitäten unterscheiden:

  • Ökostrom aus Bestandsanlagen ohne weitere Zusätzlichkeit
  • Ökostrom aus ausgeförderten Bestandsanlagen, bei denen Erlöse aus dem HKN-Verkauf zum Weiterbetrieb beitragen können
  • Ökostrom aus neuen, geförderten Anlagen, bei denen HKN-Erlöse den Förderbedarf reduzieren
  • Ökostrom aus neuen, nicht geförderten Anlagen

Ein Ökostrommix mit einem möglichst hohen Anteil neuer, nicht geförderter Anlagen hat dabei einen besonders hohen Nutzen für die Energiewende. Da das Angebot entsprechender HKN am Markt noch begrenzt ist, empfiehlt beispielsweise der WWF, einen zweijährlich ansteigenden Anteil an „Ökostrom next generation“ einzukaufen, der sich zu mindestens einem Drittel aus neuen, nicht geförderten Anlagen zusammensetzt, und zu je maximal einem Drittel aus ausgeförderten Bestandsanlagen und neuen, geförderten Anlagen.

Darüber hinaus können Qualitätsanforderungen auch etwa an den Technologiemix von Ökostrom (z.B. bestimmte Anteile der fluktuierenden EE Wind- und Solarenergie) oder die räumliche Nähe von Erzeugung und Verbrauch gestellt werden (z.B. Beschaffung eines Anteils von HKN aus regionalen Anlagen).

Eine weitere Weiterentwicklungsperspektive bestünde darin, Erzeugung und Verbrauch nicht nur über ein Jahr zu bilanzieren – wie bei der bestehenden Stromkennzeichnung – sondern in engeren Zeiträumen (monatlich bis viertelstündlich).

Ein stündliches oder viertelstündliches Matching von Erzeugung und Verbrauch würde es ermöglichen, eine Anpassung von Produktionsprozessen an die tatsächliche Verfügbarkeit fluktuierender EE-Erzeugung in der Nachweisführung und Klimabilanzierung abzubilden. Voraussetzung wäre allerdings eine technische Weiterentwicklung von HKN-Systemen, um eine Echtzeit-Nachweisführung in kilowattstundenscharfer Auflösung zu ermöglichen.

Fazit

Zusammenfassend ist absehbar, dass die Bedeutung von HKN erheblich zunehmen wird, da sie einen zentralen Nachweis für die Klimabilanzierung von Unternehmen darstellen. Bei der Anwendung von Qualitätsanforderungen an Ökostrom bzw. HKN können Unternehmen eine wichtige Vorreiterrolle einnehmen. Entsprechend empfiehlt es sich, die Qualität der beschafften erneuerbaren Eigenschaften im Rahmen der Klimaberichterstattung zu kommunizieren.

Dieser Text entstand im Umfeld des Projekts Guarantees of Origin for Industry. Gefördert vom Bundesumweltministerium, werden darin Handlungsleitlinien für eine praxistaugliche Umsetzung von Herkunftsnachweissystemen erarbeitet. go4-industry.com



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