Das deutsche Arbeitsmarktwunder ist langfristig teuer erkauft

Prof. Dr. Thomas StraubhaarUniversität Hamburg

Ausgerechnet in Zeiten eines durch die Digitalisierung an Tempo und Intensität enorm beschleunigten Strukturwandels taucht erneut das Gespenst einer „säkularen Stagnation“ auf, das bereits zur Zwischenkriegszeit in den 1930er Jahren die Menschheit verängstigt hatte. Die Weltwirtschaft stehe vor einer langen Phase schwachen ökonomischen Wachstums mit entsprechend negativen Rückwirkungen auf den durchschnittlichen Lebensstandard – so die pessimistische These der Stagnationspropheten.

Einen Beleg für die negativen Zukunftsaussichten liefern scheinbar die Produktivitätsfortschritte. Sie haben sich in den letzten Dekaden in der Tat stetig verlangsamt. Das gilt – wie Abbildung 1 und 2 exemplarisch für Deutschland aufzeigen – sowohl für die Arbeitsproduktivität – die das Verhältnis von Arbeitseinsatz (Zahl der Erwerbstätigen oder der geleisteten Arbeitsstunden) zum Output, in der Regel zum BIP, misst als auch für die Totale Faktorproduktivität, die oft als technischer Fortschritt interpretiert wird und die wiedergibt wie dank Innovationen das Zusammenwirken aller am Produktionsprozess beteiligten Produktionsfaktoren verbessert werden kann.

Abbildung 1: Arbeitsproduktivität 1990-2015 in Deutschland in Prozent. © Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW)

Für die Verlangsamung der Produktivitätsfortschritte finden sich in der ökonomischen Literatur eine Reihe von Erklärungen. Sie reichen (für Deutschland) von den auslaufenden Effekten der Wiedervereinigung, den eher schwachen Impulsen der Digitalisierung, weil deren Chancen hierzulande nicht wirklich genützt werden, bis hin zu den Folgen des demografischen Wandels. Desweitern dürfte sich die Alterung der Bevölkerung tendenziell dämpfend auf das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum auswirken, weil die individuelle Arbeitsproduktivität mit dem Alter zunächst steigt, dann aber wieder abnimmt.

Das „Beschäftigungswunder“ und seine Nebeneffekte

Eine Erklärung der sinkenden Fortschritte bei der Arbeitsproduktivität ist so deutschlandtypisch, dass sie besondere Beachtung verdient. Die Mitte der letzten Dekade unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seiner rot-grünen Regierung auf den Weg gebrachte Agenda 2010 und die nach Peter Hartz benannten Arbeitsmarktreformen des „Förderns und Forderns“ waren darauf ausgerichtet, möglichst viele Personen in Arbeit zu bringen. Entsprechend wurde der Druck auf Erwerbslose verstärkt, arbeiten zu müssen und auch vergleichsweise schlechter bezahlte Jobs zu akzeptieren. Im Ergebnis nahm die Beschäftigung in Deutschland rasant zu. Die Arbeitslosigkeit ging von fünf Millionen (Anfang 2005) stetig auf mittlerweile 2,275 Millionen im Sommer 2019 zurück – ein riesiger Erfolg.

Allerdings war der deutsche „Beschäftigungswunder“ mit einem Nebeneffekt verbunden. Er basierte auf einer Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer(innen) als Gegenleistung zur Schaffung und Erhaltung von Beschäftigung. Wenn aber für Unternehmen Arbeitskräfte billig(er) werden, fehlen betriebswirtschaftliche Anreize, in Maschinen, Roboter und neue digitale Technologien zu investieren. Warum auf teure(re) Automaten setzen, wenn Arbeit so billig ist? Entsprechend unterblieb ein Modernisierungsschub. Man hat Menschen eingestellt und nicht Maschinen eingesetzt. So wurden und werden hierzulande immer noch viele Tätigkeiten von Hand und Arbeitskräften und nicht von Automaten und Roboter erledigt – was möglich wäre und in hoch entwickelten Volkswirtschaften mittlerweile gang und gäbe geworden ist. Weit stärker als in Deutschland werden andernorts Software und Algorithmen in der Lohnbuchhaltung, im Rechnungswesen, in der Logistik, im Finanzwesen und bei Versicherungen eingesetzt und sind beim Einkaufen Kassierer oder bei Diagnosen Mediziner überflüssig geworden.

Produktivitätsfortschritte im Auge behalten

Was für die DDR typisch war – Vollbeschäftigung sowie hohe Beschäftigungsgarantie bei niedriger Arbeitsproduktivität, entsprechend schlechter Bezahlung und geringem allgemeinem Wohlstand – droht der Bundesrepublik im Zeitalter von Digitalisierung und Datenökonomie, wenn zu lange an veralteten Dogmen der Industriegesellschaft festgehalten wird. Arbeitsplätze zu erhalten, indem man in vielen Bereichen billige Arbeitskräfte schaffen lässt, was Roboter und künstliche Intelligenz fehlerfrei, 24/7, besser und günstiger erledigen können, ist eine zum Scheitern verurteilte Strategie. Wer den Wohlstand steigern will, muss zuallererst die Produktivitätsfortschritte im Auge haben und nicht die Massenbeschäftigung um jeden Preis.

Die Arbeitsproduktivität ist das Spiegelbild der Investitionen, weil sie die Wertschöpfung misst, die durchschnittlich pro Arbeitskraft oder pro Arbeitsstunde erwirtschaftet wird. Und da zeigt sich natürlich unmittelbar, ob die Beschäftigten Baugruben mit nackten Händen, Schaufeln und Pickeln oder Baggern und schwerem Gerät ausheben und ob Daten von Hand, mit Taschenrechnern, einfachen Rechenmaschinen oder automatisch durch Laser, kluge Algorithmen und künstliche Intelligenz erfasst und weiterverarbeitet werden. Je mehr Computer und Roboter eingesetzt werden, umso höher ist die Arbeitsproduktivität – nicht zuletzt auch, weil mit neuen Automaten auch der technische Fortschritt Eingang in Herstellverfahren findet. Je effizienter und effektiver produziert wird, umso attraktiver werden die Angebote, umso höher die Umsätze und umso mehr Einkommen steht zur Verfügung, das auf Arbeit und Kapital, also Menschen und Maschinen, verteilt werden kann.

Abbildung 2: Totale Faktorproduktivität 1990-2015 in Deutschland in Prozent. © IfW

Der Kriechgang bei der Arbeitsproduktivität als Konsequenz der zurückhaltenden Investitionstätigkeit und einem damit einhergehenden langsamen Innovationstempo wird sich rächen und die wirtschaftliche Prosperität in Deutschland mehr als alles andere in Frage stellen – mehr auch als Donald Trumps Aggression, Chinas Drohungen und ein ungeregelter Brexit zusammen. Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand sind langfristig einzig mit mehr Investitionen (auch in Bildung und Forschung) und damit einhergehend mehr Innovation und einer höheren Arbeitsproduktivität zu sichern. Denn das Wachstum der Arbeitsproduktivität ist die Grundlage, aus der sich der Anstieg der Löhne ableitet. Und da gilt die einfache Regel: schwache Investitionstätigkeit heute führt morgen zu geringen Fortschritten bei der Arbeitsproduktivität, was Löhne stagnieren oder lediglich noch langsam wachsen lässt – langsamer als in Ländern, in denen auf breiter Front das bargeldlose Einkaufen ohne Kassen, das papierlose Büro ohne Sekretariat, Softwareroboter für das Inkasso, die Belegverarbeitung und zur Klärung von Versicherungsfällen oder künstliche Intelligenz bei medizinischer Diagnostik sowie Auswertung von Röntgenbilder alltäglicher Standard sind.

„In Deutschland wird zu arbeitsintensiv produziert“

Die Stagnation der Produktivitätsfortschritte in Deutschland ist nicht gott-gegeben, und sie hat nichts mit einer unabwendbaren deterministisch ablaufenden „säkularen“ Entwicklung zu tun. Sie ist menschgemacht. Sie ist nicht fehlenden Ideen oder Innovationen geschuldet. Sie ist die Folge mangelnder Anreize, Innovationen anzuwenden und umzusetzen, in neue arbeitssparende Technologien zu investieren und Produktionsprozesse zu modernisieren. In Deutschland wird zu arbeitsintensiv, mit zu viel Arbeitskräften und zu wenig (Human-)Kapital produziert. Das ist die wahre Ursache der bestenfalls geringen Produktivitätssteigerungen. Insgesamt weniger, dafür besser, klüger, cleverer, motivierter, gesünder, ausgeglichener und dadurch weit produktiver als heute zu arbeiten, muss das Ziel künftiger Arbeitsmarktpolitik sein. Nur so werden langfristig jene hohen Löhne bezahlt werden können, die eine weitere Steigerung des Lebensstandards für kommende Generationen ermöglichen.

Der Artikel gibt Ergebnisse des Forschungsprojektes „Neuvermessung der Weltwirtschaft: Wie verändert die Digitalisierung die Messung der Wertschöpfung“ wieder, das von der NORDAKADEMIE-Stiftung Elmshorn (Hamburg) finanziell großzügig gefördert wird.



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