Der Klimawandel und was freizeitliche, inklusive Produktivität zu seiner Entschärfung beitragen kann

Am Anfang jeder Problemlösung steht die möglichst exakte, möglichst übersichtliche Problemerfassung. Dies gilt gerade auch für das Problem der Gegenwart: die globale Bedrohung durch Klimakatastrophe und Artensterben.

Obwohl viel dazu gesagt und geschrieben wird, fehlt erstaunlicherweise wohl immer noch eine leicht fassbare Beschreibung des Problemkerns mitsamt seiner Verursachung.

Was also verhindert angemessene individuelle und gesellschaftliche Reaktionen auf die erkennbare existenzielle Bedrohung?

Es ist die grenzenlose Toleranz des Klimas gegenüber dem Individuum, das Auseinanderfallen von persönlicher und kollektiver Gefährdung in der dicht bevölkerten und technisch hochentwickelten Welt der Gegenwart: Was auch immer der Einzelne tut, ob er „viel fliegt, viel Fleisch isst, viele Kinder bekommt“ (Jonathan Safran Foer), ist für das Klima völlig unerheblich. Der Einzelne kann dem Klima auch in unserer hochtechnisierten Wirtschaftsgesellschaft selbst bei bösem Willen nichts antun.

Erst dadurch, dass es milliardenfach geschieht und über Generationen hinweg wiederholt wird, wird menschliches Handeln auf dem erreichten Entwicklungsstand von Wissenschaft, Technik und Populationsdichte zerstörerisch und entfaltet spürbare Rückwirkungen auf das menschliche Kollektiv.

Wirkung mit Verzögerung

Erschwerend kommt hinzu, dass die Rückwirkungen regelmäßig nur mit erheblichen Verzögerungen sowie blind zuschlagen. Wenn sie denn erscheinen, scheren sie sich nicht darum, ob die Getroffenen als Vielflieger, Fleischesser, Eltern selber zu den Klimaproblemen erheblich beigetragen haben oder nicht. Diejenigen mit den kleinsten ökologischen Fußabdrücken, zum Beispiel die überwiegend einkommensschwachen, nichtmotorisierten Anwohner der großen, belasteten Verkehrsstraßen, die Bewohner der Slums in Haiti oder des Gangesdeltas, trifft es oft am härtesten. Und umgekehrt.

Besonders problematisch ist jedoch, dass einsichtiger, verantwortungsbewusster individueller Verzicht auf besonders umweltschädigendes Verhalten, wo es denn – selten genug – anzutreffen ist, letztlich die Gefahren nicht entschärft. Denn individuelle Verzichtsleistungen, die im Übrigen nicht von allen erbracht werden können, ermöglichen all jenen, die unbeschwert weitermachen wie bisher, zusätzlichen Verzehr.

Und dieses tragische, grüne Paradox gilt im Kleinen wie im Großen.

Wenn einzelne Staaten zum Beispiel ihren Verbrauch fossiler Energien einschränken, dann sinken die Preise für Kohle, Gas und Öl. Andere, insbesondere ärmere Staaten können und werden dann mehr davon verbrauchen – zumal die Förderländer ihre Schätze nicht unverwertet im Boden lassen werden; notfalls werden sie sie sogar verramschen.

Demgemäß strebt der globale Verbrauch fossiler Energien – allen anderslautenden Bekundungen und Schlachtrufen für „Klimaneutralität“ zum Trotz – gegenwärtig einem Allzeithoch entgegen. Namentlich die Kohle ist im Vormarsch, und die Öl-, Gas- und Kohlereserven reichen bei derzeitigem Verbrauch noch hundert Jahre*. „Hallo, komme gleich“, grüßt die Heißzeit!

Kostenwahre Preise als Instrument

Verpflichtend kostenwahre Preise (heißt Preise, welche die externen Kosten der Waren und Leistungen enthalten) sowie Gebote/Verbote und Rationierungen/Kontingentierungen stellen dagegen effektive ordnungspolitische Instrumente dar, die überdies durchweg demokratisch-egalitär wirken.

Trotzdem kommen sie – insbesondere unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie sowie freier internationaler Abkommen – regelmäßig erst dann zum Einsatz, wenn das Wasser Oberkante Unterlippe steht, sprich sobald und soweit die Grenze tragbarer Umweltbelastung für die Beteiligten unmittelbar erkennbar ist.

Kurz: Der Verzicht der Einsichtigen verlängert den Verzehr der Uneinsichtigen und Gedankenlosen; kollektives, problemgerechtes Handeln dagegen kommt allenfalls in Ansätzen zustande. „Nicht ich/nicht wir, nicht jetzt, nicht so, zu spät“, heißt es deshalb allenthalben.

Währenddessen wächst die ökologische Gesamtbelastung stetig. Damit wird die Entwicklung so gefährlich wie das Feuer unterm Dach. Um Greta zu zitieren: „Die Erde brennt.“

© Veri Ivanova – unsplash.com

Wie können wir das Problem entschärfen?

Jedoch: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt un-terginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“, soll Martin Luther gesagt haben. Deshalb die Frage: Was kann in dieser existenzbedrohenden Lage Rettung oder doch wenigstens Linderung bringen, einen Zeitgewinn?

Technische Lösungen, Geoengineering jedenfalls nicht.

Unter dem Strich ist Technik nicht die Lösung, sondern oft das Problem: Die entwickelten technischen Fähigkeiten, zumal wenn sie CO2 freisetzen, sind es, welche die Menschheit in die aktuelle Lage gebracht haben.

Technische Lösungen haben regelmäßig im Laufe der Zeit neue Probleme geschaffen, Probleme, die größer waren als diejenigen, die mit ihrer Hilfe gelöst wurden. Gerade deshalb stehen wir heute vor dem Abgrund. Mittelalterliche Technik dagegen lässt das Klima kalt.

Einen Pfad vom Abgrund weg weist Arbeitszeitverkürzung zu hinreichenden Löhnen respektive Verlängerung der Freizeit. Wie vielfach kenntnisreich erörtert (siehe Beitrag von Virgilia Jansen-Preilowski auf diesem Blog), ist sie eine Quelle weiterer Produktivitätsfortschritte.

Und gleichzeitig ist sie das bestgeeignete Mittel zur Auflösung der unhaltbar gewordenen Verbindung zwischen dem Wachstum der Produktivität und dem Wachstum der Wirtschaft, kurz gesagt: Arbeitszeitverkürzung ermöglicht inklusive Produktivität und umgekehrt.

Zusätzlich ebnen Arbeitszeitverkürzungen den Weg zu Vollbeschäftigung und verbessern die Chancen für eine leistungs- und systemgerechte Primärverteilung, folglich auch die Chancen für sozialen Ausgleich ohne besondere staatliche Steuerung.

Außerdem entfalten vermehrte Freizeit/verkürzte Arbeitszeit keinen sonderlichen Investitionsbedarf, folglich keinen nennenswerten zusätzlichen Steuer- und/oder staatlichen Kreditbedarf: Arbeitszeitverkürzung ist frei von Schulden, Steuern und sonstigen gesellschaftlichen Belastungen erhältlich.

Zeitwohlstand steigert Zufriedenheit

Obendrein steigert Zeitwohlstand die Zufriedenheit: Arbeitszeitverkürzung sichert die erforderliche physische und psychische Entspannung, hilft gegen Rückenprobleme und Depressionen, gegen Burn-outs und Schlaflosigkeit als den neuen Volkskrankheiten. Kurz: In der Arbeitszeitbeschränkung fallen Umweltschutz und Menschenschutz zusammen.

Insgesamt verschafft Arbeitszeitverkürzung ein erhebliches Maß an persönlicher, gesellschaftlicher und politischer Entspannung. Dadurch – und das ist entscheidend – schafft sie eine wesentliche Voraussetzung für jene Konsensfähigkeit und Mobilisierungskraft, welche – wenn überhaupt- in der Lage ist, eingreifendes, zielführendes Gestalten unserer (Um-)Welt hervorzubringen und uns auf dem Weg in den Abgrund zu behindern. Das soziale und das meteorologische Klima nämlich sind untrennbar miteinander verbunden.

Auf dem erreichten Produktivitätsstand gilt daher: Wenn etwas in unserer existenzbedrohten Lage noch weiter wachsen darf, ja wachsen muss, dann ist es die Freizeit. Um die Grenzen ihres Wachstums braucht sich erfreulicherweise niemand Sorgen zu machen.


*Ein paar exemplarische Zahlen: Während 1991 in den Regionen Afrika, Naher Osten, Asien und Pazifik 1.069,3 Mio. Ton-nen Kohle gefördert wurden, waren es 2020 6.107,1 Mio. Tonnen; das entspricht einem Zuwachs von 571,13 %. Der Anteil des mit erneuerbaren Energien hergestellten Stroms ging in Deutschland im letzten Jahr um 18,6 Prozentpunkte zurück zugunsten konventionell erzeugten Stroms.

Bis 2040 wird damit gerechnet, dass der Anteil konventionell erzeugten Strom weltweit zwar von derzeit 70,5 % auf 62 % zurückgeht; der Strom aus erneuerbaren Energien wächst aber nur von 15,6 % auf 23 % (Kernenergie: von 13,9 % auf 16 %). Da der Gesamtverbrauch zunimmt, beinhaltet der sinkende Anteil des kon-ventionell erzeugten Stroms eine absolute Zunahme. Dementsprechend befeuert China sein BIP-Wachstum mit Kohleverstromung… „Das zur Schau gestellte Klimabewusstsein von Politikern und Medien kontrastiert mit der Tatsache, dass die Förderung, der Verkauf und der industrielle Verbrauch fossiler Brennstoffe einem Allzeithoch entgegenstreben.“ (Gabor Steingart, Steingarts Morning Briefing vom 20.8.2021. Dort auch die Zahlen.)

Literatur

Brankovic, Maja, Wenn der Lohn das Herz bricht, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 28.5.2017 (die Autorin referiert die Forschungsergebnisse von A. Falk, F. Kosse, J. Menrath, P. E. Verde, J. Siegrist, K. Fliessbach, B. Weber, P. Trautner, T. Dohmen, U. Sunde, C. E. Elger und S. Schneck in den Fachzeitschriften Science, Management Science und Review of Behavioral Eco-nomics der Jahrgänge 2014 – 2017.)

Foer, Jonathan Safran, Wir sind das Klima – Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können, Köln 2019

Edenhofer, Ottmar/Jakob, Michael, Klimapolitik –Ziele, Konflikte, Lösungen, Bonn 2017

Jansen-Preilowski, Virgilia, Produktiver und gesünder durch Arbeitszeitverkürzung bei gleichem Lohn? in: Blog „Inclusive Productivity“ vom 18.8.2021

Klein, Naomi, Unser Sommer des Feuers und der Fluten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9/2021

Kolbert, Elisabeth, Wir Klimawandler – Wie der Mensch die Natur der Zukunft erschafft, Berlin 2021

Mann, Michael E., Propheten der Untätigkeit – Die Propaganda von der technischen Beherrsch-barkeit der Klimakrise, in: Blätter für deutsche und internationale Polittik, Nr. 8 und 9/2021

Peukert, Helge, Klimaneutralität jetzt! Politiken der Klimaneutralität auf dem Prüfstand: IPCC-Berichte, Pariser Abkommen, europäischer Emissionshandel und Green Deal, internationale freiwillige Klimakompensationsprojekte und die deutsche Klimapolitik, Marburg 2021

Schellnhuber, Hans Joachim, Selbstverbrennung – Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, München 2015

Steingart, Gabor, Steingarts Morning Briefing vom 20.8.2021

Stommel, Axel, Kostenwahrheit, externe Kosten und Moral, in: Wirtschaft und Erziehung, Nr. 10/2003

Stommel, Axel, Basics der Ökonomie, Band 1: Wirtschaftspolitik, Staat und Steuern, Marburg 2019

Stommel, Axel, Die Unerträgliche Leichtigkeit der Schulden – Corona, das Klima und die Schwarze Null, Marburg 2020

Stommel, Axel, Modern Monetary Theory: Das Ende der Umverteilung?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8/2021

Wegst, Ulrich, Keine Angst vorm Verzicht – Ein Plädoyer für die wichtigste Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts, Marburg 2021

Wilkinson, Richard/Pickett, Kate, Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle bes-ser sind, Berlin 2003

 



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