Produktivitätswachstum bis zur Klimakatastrophe?

Der Kapitalismus war eine Revolution. Plötzlich setzte exponentielles Wachstum ein, nachdem die europäische Wirtschaft seit Jahrtausenden stagniert hatte. Das Pro-Kopf-Einkommen im 17. Jahrhundert war kaum höher als im antiken Rom.

Der moderne Kapitalismus ist um 1760 in England entstanden, als Textilfabrikanten auf die Idee kamen, Webstühle und Spinnereien zu mechanisieren. Heute wirken diese Maschinen sehr klein und zierlich, aber mit ihnen begann eine neue Epoche. Erstmals in der Geschichte wurde die menschliche Arbeitskraft systematisch durch Technik ersetzt.

Das „Kapital“ im Kapitalismus ist also nicht das Geld, sondern es sind die effizienten Produktionsprozesse und der technische Fortschritt. Es war eine Revolution, kein schlichtes Mehr vom Gleichen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hat für diesen fundamentalen Wandel ein prägnantes Bild gefunden: „Man kann beliebig viele Postkutschen aneinanderreihen – und trotzdem wird daraus niemals eine Eisenbahn.“

Doch warum hat die Industrialisierung ausgerechnet in England eingesetzt? Und warum ab 1760? „Obwohl Tausende von Büchern geschrieben wurden, bleibt es ein gewisses Rätsel“, konstatiert die amerikanische Wirtschaftshistorikerin Joyce Appleby. Technologisch waren die Briten nämlich nicht besonders avanciert und wussten anfangs auch nicht mehr als die antiken Römer. Die Dampfmaschine beruhte auf Prinzipien, die seit Archimedes bekannt waren.

Kapitalismus und Produktivität – für alle ein Gewinn

Die Wirtschaftshistoriker haben inzwischen weit mehr als 20 verschiedene Theorien entwickelt, warum der moderne Kapitalismus in England seinen Anfang nahm. Die überzeugendste Analyse setzt bei den Produktionskosten an: Die englischen Löhne waren im 18. Jahrhundert die höchsten der Welt – sodass die britischen Waren international nicht mehr konkurrenzfähig waren. Weil die Menschen teuer waren, lohnte es sich erstmals, kostspielige Maschinen einzusetzen, um damit die eigene Effizienz zu steigern und die hohen Löhne wieder einzuspielen.

Der Kapitalismus und seine Produktivität waren für alle ein Gewinn. Wir sind heute etwa 20 Mal reicher als unsere Vorfahren, die im 18. Jahrhundert lebten. Es ist zwar nicht zu übersehen, dass die Ungleichheit groß und der Reichtum unfair verteilt ist. Trotzdem lebt selbst ein Arbeitsloser heute besser als ein französischer König vor 200 Jahren, denn damals gab es keine Heizung oder Zahnärzte. Allerdings darf man nicht den Fehler machen, den Kapitalismus allein als ein Wirtschaftssystem zu verstehen, das materiellen Wohlstand schafft. Der Kapitalismus ist ein totales System. Er hat alles verändert: wen wir heiraten, wie wir unsere Kinder erziehen oder unsere Freizeit verbringen.

Viele immaterielle Errungenschaften würden wir nicht missen wollen, auch wenn der Kapitalismus zu Ende geht. Um nur drei Beispiele zu nennen: Die Lebenserwartung ist von etwa 35 auf über 80 Jahre gestiegen. Zudem zeigt sich weltweit, dass Demokratien nur eine Chance haben, wenn die Länder wohlhabend sind. Auch das Thema Gleichberechtigung – ob von Frauen, Behinderten, Homosexuellen oder Zuwanderern – kommt erst auf, wenn Gesellschaften relativ reich sind.

Die Kehrseite des Kapitalismus

Allerdings hat der Kapitalismus eine Kehrseite: Wachstum und Produktivität gibt es nur, weil Technik eingesetzt wird, die wiederum Energie verbraucht. Sie wird bisher von fossilen Rohstoffen geliefert, also von Kohle, Öl und Gas, die enorme Mengen an CO2 emittieren. Der Kapitalismus und die Klimakrise gehören zusammen. Doch sind die Treibhausgase keineswegs das einzige Umweltproblem. Momentan tun die Europäer so, als könnten sie drei Planeten verbrauchen. Es gibt jedoch nur eine Erde.

Die Regierungen hoffen daher, dass sie Wirtschaft und Umwelt langfristig versöhnen könnten. Die Stichworte heißen „Green New Deal“ oder „Entkopplung“ von Wachstum und Energie. Die Kernidee ist, die gesamte Wirtschaft auf Ökostrom umzustellen – ob Verkehr, Industrie oder Heizung.

Diese Idee klingt jedoch nur so lange gut, wie man die offensichtlichen Probleme dahinter verschweigt. Ein E-Auto ist, auch wenn es mit Ökostrom fährt, keineswegs umweltfreundlich, sobald die rohstoffintensive Herstellung berücksichtigt wird. Zudem entsteht Ökostrom nicht aus dem Nichts, sondern produziert ebenfalls Folgekosten. Windräder sind zwar längst nicht so umweltschädlich wie Kohlekraftwerke, aber auch sie greifen in die Landschaft ein und werden bald zu einem Müllproblem. Denn Windräder laufen nur maximal dreißig Jahre und sind anschließend eine Industrieruine aus neunzig Meter Schrott. Bisher ist noch völlig unklar, wie man die verschlissenen Rotoren-Blätter eigentlich recyclen soll.

Ökostrom wird knapp bleiben

Vor allem aber: Ökostrom wird immer knapp bleiben. Diese Aussage mag zunächst seltsam wirken, denn die Sonne schickt 10.000 Mal mehr Energie zur Erde, als die sieben Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten. An physikalischer Energie fehlt es also nicht, und dennoch wäre es eine Milchmädchenrechnung zu glauben, dass Öko-Energie im Überfluss zur Verfügung stehen kann.

Denn Sonnenenergie allein nutzt gar nichts; sie muss erst eingefangen werden. Solarpanele und Windräder sind jedoch technisch aufwändig – jedenfalls deutlich aufwändiger, als Kohle, Öl oder Gas zu fördern und zu verbrennen. Momentan wirkt der Ökostrom konkurrenzfähig, weil damit „nur“ fossiler Strom ersetzt wird – und zwar im laufenden Betrieb. Die Bilanz wird sofort schlechter, wenn der Ökostrom gespeichert und in der gesamten Wirtschaft eingesetzt werden soll.

Erhellend ist der „Erntefaktor“ EROI, der misst, wie viele Energie-Einheiten investiert werden müssen, um neue Energie-Einheiten zu gewinnen. Dabei stellt sich dann heraus, dass Ökostrom maximal die Hälfte der Netto-Energie liefern kann, die sich mit fossilen Varianten erzeugen lässt. Das ist bitter. Denn damit ist klar, dass Ökostrom teuer ist und sich die Effizienz halbieren würde.

Die Produktivität würde also sinken. Dann aber kann es kein Wachstum mehr geben. Stattdessen muss die Wirtschaft schrumpfen, wenn man sie allein mit Ökostrom antreiben will.

Kein Hunger, aber Neuorientierung

Aber wie soll man sich dieses Schrumpfen vorstellen? Es hilft, vom Ende her zu denken. Da Ökostrom knapp bleibt, ist eine klimaneutrale Wirtschaft nur denkbar, wenn man auf sämtliche Flugreisen und das private Auto verzichtet. Auch Banken und Versicherungen sind weitgehend überflüssig, wenn eine Wirtschaft schrumpft. Gleiches gilt für PR-Berater, Reisebüros, Messelogistiker oder Graphikdesigner.

In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Menschen in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern.

Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist im wahrsten Sinne des Wortes „alternativlos“. Wenn wir unseren CO2-Ausstoß nicht auf netto Null reduzieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die von selbst dafür sorgt, dass die Produktivität abnimmt und die Wirtschaft schrumpft. In diesem ungeplanten Chaos käme es wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen aller, den die Demokratie nicht überleben würde. Da ist es besser, frühzeitig auf Ökoenergie zu setzen und geordnet aus dem Wachstum auszusteigen.

 

 



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