Selbständige mit Migrationshintergrund – der verkannte Wirtschaftsfaktor

Armando García SchmidtBertelsmann Stiftung

Die Stärke und Vitalität der deutschen Volkswirtschaft hängt nicht allein von den Erfolgen einiger weniger professionell gemanagter Großkonzerne ab. Sie basiert auf einer beeindruckend vielfältigen und leistungsstarken Landschaft kleiner und mittlerer Unternehmen, von denen die Mehrzahl von persönlich haftenden Eigentümer:innen geführt wird.

Diese mittelständische Landschaft bleibt jedoch nur produktiv, wenn ständig neue Unternehmen hinzukommen. Neue Unternehmen tragen zu einem verbesserten Wettbewerbsklima bei, indem sie innovative Geschäftsideen in bestehende Branchen einbringen oder die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige vorantreiben.

Wer stemmt sich gegen die Gründungsmisere?

Vor diesem Hintergrund ist es besorgniserregend, dass sich Selbständigenquote und Unternehmensbestand in Deutschland seit Jahren rückläufig entwickeln. Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ist der Gesamtbestand an Unternehmen zwischen 2011 und 2018 um insgesamt 8.500 Unternehmen geschrumpft.

Es gibt aber auch einen Trend, der optimistisch stimmt: Immer stärker beteiligen sich Menschen mit Migrationshintergrund am Gründungsgeschehen in Deutschland und sind als Unternehmer:innen aktiv. Zwei aktuelle Studien, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung entstanden sind, geben Auskunft über diesen Trend: Migrantenunternehmen in Deutschland zwischen 2005 und 2018“ und „Ausländische Staatsangehörige als Gründer in NRW zwischen 2003 und 2018“.

Hoher Beschäftigungseffekt

Wie groß der Beitrag von Unternehmer:innen mit ausländischen Wurzeln heute in Deutschland ist, zeigen imposante  Zahlen: Die Zahl der Erwerbstätigen, die in Unternehmen beschäftigt sind, deren Inhaber:in einen internationalen Hintergrund hat, wuchs zwischen 2005 und 2018 von rund einer Million Personen um 50 Prozent auf rund 1,5 Millionen. Die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung – dazu zählen die geschaffenen Arbeitsplätze sowie Arbeitgeber:innen und Alleinunternehmer:innen mit Migrationsgeschichte – ist sogar von 1,55 Millionen auf 2,27 Millionen Personen gewachsen. Besonders hoch war der Beschäftigungseffekt in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg.

Die Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte könnten jedoch noch erfolgreicher sein. Die Selbstständigenquote von Migrant:innen ließe sich um etwa fünf Prozentpunkte steigern und das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen der Unternehmer:innen könnte um rund 200 Euro wachsen. Dies zeigt eine Regressionsanalyse, die die zentralen Determinanten für die Selbstständigkeit einbezieht. Voraussetzung ist, dass mehr für die Bildung und für Förder- und Beratungsstrukturen getan wird. Eine Verbesserung des Qualifikationsniveaus der Bevölkerung mit Migrationshintergrund könnte nicht nur zu mehr Unternehmertum in dieser Bevölkerungsgruppe beitragen, sondern würde auch helfen, den wirtschaftlichen Beitrag und den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund substanziell zu steigern.

Immer mehr Unternehmerinnen

Auch ohne diese zusätzlichen Maßnahmen ist die Zahl der Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund von 2005 bis 2018 um 36 Prozent auf 773.000 Selbstständige gestiegen. Sogar um 57 Prozent legte die Zahl selbstständiger Frauen mit Migrationshintergrund im Betrachtungszeitraum zu. Mehr als ein Drittel aller Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte sind heute Frauen.

Die Zahl der Selbstständigen ohne Zuwanderungsgeschichte sank hingegen drastisch: 2018 gab es 275.000 weniger Selbstständige ohne Migrationshintergrund als im Jahr 2005. Abnehmende Gründungs- und Unternehmensdynamik kennzeichnen den Wirtschaftsstandort Deutschland schon lange. Das macht deutlich: Ohne Zuwanderung wäre die Gründungsmisere in Deutschland um ein Vielfaches dramatischer.

Nettoeinkommen deutlich gestiegen

Selbstständigkeit ist ein Treiber für höheres Einkommen und Wohlstand. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Menschen mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte handelt.  Unternehmer:innen ohne Migrationshintergrund haben ihr durchschnittliches monatliches Netto-Einkommen von 2005 bis 2018 um 38 Prozent oder 900 Euro auf 3.200 Euro steigern können (ohne Preisbereinigung). Dahinter bleiben die Zahlen der Selbstständigen mit ausländischen Wurzeln zurück. Aber auch sie erreichten ein Plus von 32 Prozent oder gut 600 Euro auf ein monatliches Nettoeinkommen von rund 2.500 Euro. Damit übertreffen die Selbstständigen mit Migrationshintergrund das durchschnittliche Netto-Einkommen von abhängig Beschäftigten mit Migrationshintergrund um 44 Prozent. Letzteres liegt bei rund 1.700 Euro im Monat.

Branchenvielfalt

Das Profil der Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund verändert sich. Mehr als die Hälfte der Selbstständigen mit Zuwanderungsgeschichte (55 Prozent) ist mittlerweile im Dienstleistungsbereich außerhalb von Handel und Gastronomie tätig. Handel und Gastgewerbe machen nur noch rund 25 Prozent aus, ein Rückgang um 13 Prozent im Vergleich zu 2005. Knapp 198.000 Unternehmer:innen und damit 18.000 weniger als 2005 arbeiteten 2018 In Handel und Gastgewerbe. In allen anderen Branchen – mit Ausnahme der Landwirtschaft – gab es 2018 mehr Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund als 2005.

Migrant:innen federn Gründungsrückgang in NRW ab

Die Studie „Ausländische Staatsangehörige als Gründer in NRW zwischen 2003 und 2018“ des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn verdeutlicht, wie dramatisch die Situation im bevölkerungsstärksten Bundesland in punkto Unternehmensdynamik ist: Seit 2011 übersteigt die Zahl der gewerblichen Unternehmensaufgaben die der gewerblichen Existenzgründungen bei Weitem: Im gewerblichen Teil der Wirtschaft scheiden durchschnittlich rund 5.800 Unternehmen im Jahr mehr aus als Neugründungen hinzukommen.

Ohne die überdurchschnittlichen Gründungsaktivitäten ausländischer Staatsangehöriger wäre der gewerbliche Unternehmensbestand zwischen Rhein und Weser noch weitaus stärker eingebrochen. Im Jahr 2018 gehen in NRW 39,2 Prozent aller gewerblichen Existenzgründungen auf ausländische Staatsangehörige zurück.

Das Rheinland ist Spitzenreiter

Interessant ist auch der regionale Vergleich. Die Gründungsaktivitäten sind in den betrachteten neun Wirtschaftsregionen in NRW keineswegs gleichmäßig stark ausgeprägt. Die unterschiedlichen Gründungsvoraussetzungen beeinflussen die Gründungsneigung von ausländischen und die von deutschen Staatsangehörigen gleichermaßen.

Die meisten Gründungen gibt es in den Regionen Düsseldorf, Köln-Bonn und Niederrhein. Schlusslichter sind das Münsterland, Südwestfalen und Ostwestfalen-Lippe. An der Rangfolge der Regionen hat sich seit den frühen 2000er-Jahren nur wenig geändert: Gründungsstarke Regionen blieben über die Jahre gründungsstark, gründungsschwache Regionen blieben gründungsschwach.

Diese Unterschiede haben wohl strukturelle Gründe. Während sich in den starken Regionen Düsseldorf und Köln-Bonn die weit überdurchschnittliche Wirtschaftskraft günstig auszuwirken scheint, sorgte in den Regionen Münsterland, Ostwestfalen-Lippe und Südwestfalen offenbar die günstige Lage am Arbeitsmarkt im Betrachtungszeitraum dafür, dass weniger Impulse für das Gründungsgeschehen ausgingen.

Was tun?

Die Politik aber auch die berufsständischen Körperschaften täten gut daran, Zugewanderte auf ihrem Weg in die Selbständigkeit stärker zu unterstützen als bisher. Der wirtschaftliche Leistungsbeitrag von Selbständigen mit Zuwanderungsgeschichte ist schon heute beachtlich. Nimmt man Effekte wie den Einkommensaufstieg für die Selbständigen selbst und ihren Vorbildcharakter für gelungene Integration hinzu, sind diese Unternehmer:innen ohne Zweifel schon heute ein Motor für ein inklusives Wachstum. Die Unterstützung dieser Gruppe lohnt also in mehrfacher Hinsicht.

Es ist vor allem eine besser ausgestattete Informations- und Beratungsinfrastruktur, die dazu beitragen kann, dass Gründungsvorhaben gelingen oder noch einmal durchdacht werden. Wertvolle Arbeit in der Vernetzung zwischen Beratungseinrichtungen und in der Sicherung, Systematisierung und Weitergabe von Wissen leistet hier seit Jahren die mit Mitteln des BMAS finanzierte IQ Fachstelle Migrantenökonomie.

Das noch junge Fachkräftezuwanderungsgesetz vereinfacht auch für Unternehmer:innen und Gründungswillige die Zuwanderung. Allerdings ist bei der Diskussion um das neue Gesetz die Chance verpasst worden, das deutliche Signal zu geben, dass Deutschland nicht nur Zuwanderung von Fachkräften in abhängige Beschäftigung braucht, sondern dass Dynamik und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft in entschiedenem Maße davon abhängen, dass Deutschland als Gründerland wahrgenommen wird und sich entsprechend offen zeigt.

Schließlich müssen institutionelle Hürden im Zugang zu Selbständigkeit abgebaut werden, um Unternehmertum zu fördern. Ein Weg wäre der, dass Unternehmer:innen mit internationalem Hintergrund stärker in die Selbstverwaltung der berufsständischen Körperschaften eingebunden werden, insbesondere in Kammern, Innungen und Unternehmerverbände. Nur so können Zugangshürden und auch Vorurteile abgebaut werden, die heute zum Teil noch dazu führen, dass gründungswillige Migrant:innen schlechtere Zugänge zu institutioneller Unterstützung haben oder auch zu Finanzierungsinstrumenten.

Auch immer mehr politische Akteure erkennen, was für wichtige Entwicklungsimpulse von den Migrantenunternehmer:innen ausgehen. Mit dem Münchner Phönix-Preis gibt es ein anschauliches Beispiel, das zeigt, wie es möglich ist, den Leis-tungsbeitrag und das Engagement von Unternehmer:innen mit internationaler Geschichte öffentlich wertzuschätzen und als wichtigen Bestandteil der Dynamik des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Auch manche Landesregierungen, so etwa die von Nordrhein-Westfalen, versuchen die Selbständigen mit Zuwanderungsgeschichte zu stärken.

Und Corona?

Eine empirische Aussage über den Effekt der Corona-Krise auf das unternehmerische Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund ist aktuell nicht möglich. Fakt ist, die Corona-Krise bedroht die Existenz gerade vieler kleiner und mittlerer Unternehmen. Besonders bedroht sind junge Unternehmen, die noch nicht über eine solide finanzielle Basis verfügen und Unternehmen in spezifischen Branchen wie dem Einzelhandel und der Gastronomie. Das Baugewerbe und Teile des Verarbeitenden Gewerbes sind – aktuell betrachtet – einem geringeren Risiko ausgesetzt.

Dementsprechend sehen sich Unternehmer:innen mit Migrationshintergrund ebenso wie Selbständige ohne Zuwanderungsgeschichte je nach Betätigungsfeld aktuell sehr unterschiedlichen Szenarien gegenüber.

In der Erholungsphase nach der Corona-Krise wird es darauf ankommen, dass in Deutschland neue Unternehmen an den Start gehen. Beschäftigung, Wachstumsaussichten und Wohlstand hängen in entscheidendem Maße davon ab. Anreize, Beratungs- und Unterstützungsleistungen sollte Wirtschaftspolitik auf Bundes- und Landesebene setzen. Das Potenzial von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sollte dabei nicht aus dem Blick geraten.



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