V-Erholung, beschleunigte Produktivitätskrise oder beides?

Dr. Marcus WortmannBertelsmann Stiftung

Vor kurzem haben Stefan Empter und Armando Garcia Schmidt auf diesem Blog vor einer Verschärfung der doppelten Produktivitätskrise im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie gewarnt. Diese bestehe aus einem zeitgleichen Rückgang des aggregierten Produktivitätswachstums und einem Auseinanderdriften der Wirtschaft. Während eher große Unternehmen und Ballungsräume produktiver werden, bleiben eher kleine Unternehmen und ländliche Regionen zurück. Das Resultat: Eine Wirtschaft der zwei Geschwindigkeiten.

Die Pandemie scheint diese Entwicklung zu beschleunigen. Tatsächlich erkennen wir schon jetzt die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der die Unternehmen sich vom Einbruch der ersten Corona-Welle erholen. Nachdem sich die erste Schockstarre etwas gelöst hatte, kristallisierten sich relativ schnell auch die „Profiteure der Krise“ heraus. Dazu zählen etwa die großen Technologieriesen wie Amazon, Microsoft, Paypal oder auch deutsche börsennotierte Unternehmen wie HelloFresh oder SAP.

V oder umgedrehtes Wurzelzeichen: Eine Frage der Größe und Digitalisierung

Ein Blick auf die Aktienkurse der genannten Adressen offenbart schnell, dass hier das Szenario einer V-Erholung bereits stattgefunden hat – zumindest aus Sicht der Anleger an der Börse, wo bekanntlich die Zukunft gehandelt wird. Der S&P 500, der 500 der größten US-Unternehmen abbildet, steht nach seinem kürzlich erreichten Allzeithoch mittlerweile fast genau dort, wo er auch vor der Pandemie stand. Und das, obwohl die schwerste Rezession seit dem 2. Weltkrieg über die USA und die Weltwirtschaft gekommen ist. Blickt man auf eine größere Unternehmenszahl im Russel 2000, einem Nebewerteindex, sieht man auch hier eine erstaunliche Erholung, doch eher ein umgedrehtes Wurzelzeichen. Natürlich sind viele der kleineren Unternehmen nicht mehr börsennotiert und ihre wirtschaftlichen Erholungs- oder Überlebenschancen damit zumindest nicht mehr ähnlich gut bewertbar. Klar scheint aber schon jetzt, dass insbesondere kleinere Unternehmen ohne finanzielle Rücklagen am schwersten betroffen sind. Während eine mehr oder weniger große Insolvenzwelle bedingt durch die Aussetzung der Insolvenzanzeigepflicht in Deutschland noch aussteht, ist sie in den USA schon im Gange (siehe jüngste Euler Hermes Prognose).

Doch es ist nicht nur die Unternehmensgröße, anhand derer sich die wirtschaftliche Erholung und Entwicklung zu teilen scheint. Auch entlang des Digitalisierungsgrades von Geschäftsmodellen lässt sich eine Teilung ausmachen. Allein die fünf Technologieunternehmen Microsoft, Apple, Amazon, Alphabet und Facebook machen gemessen an ihrer Marktkapitalisierung mehr als 20 Prozent des S&P-Indexes aus – Tendenz steigend. Denn enorme Umsatzwachstumsraten und Cashflows aus skalierbaren digitalen Geschäftsmodellen machen die großen Player immer größer. Das gilt auch und gerade jetzt, denn sie sind relativ resistent gegen Probleme bei Lieferketten, der Produktion oder regionaler Nachfrage. Der Technologie-Index Nasdaq-100 schnellte sogar zu neuen Höhen empor und markierte mit knapp 12400 Punkten Anfang September einen um fast 30 Prozent höheren Stand als vor Corona.

Während also klassische Wirtschaftsbereiche wie der Tourismus, das Hotel- und Gastronomiegewerbe, Verkehr, Teile des stationären Handels und der Industrie (und in der Folge auch Banken und Versicherungen) unter einem starken und längeren Einbruch zu leiden haben, florieren die Geschäfte von digitalisierten Unternehmen wie etwa Amazon, das sogar viele Tausend neue Stellen schafft. Ein Lichtblick, könnte man meinen. Und das ist es sicherlich auch, zumindest kurzfristig. Nur: wenn sich diese Entwicklung in die Zukunft fortschreibt, dann werden insbesondere die digitalen und großen Unternehmen einen Fortschritt erzielt haben, der sie irgendwann außer Konkurrenz setzt. Und derzeit sieht es so aus, als würde die Corona-Krise genau diese Entwicklung beschleunigen: The winner takes it all.

Die zunehmende Marktmacht der stärker digitalisierten Spitzenunternehmen einzelner Branchen kann letztlich zu einer persistenten Zweiteilung der Produktivitätsentwicklung führen. Da sich die Löhne aber weitgehend an der Produktivitätsentwicklung orientieren, wird es folglich auch hier mit der Zeit zu größerer Ungleichheit kommen. Auch die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am gesamtwirtschaftlichen Einkommen, kann perspektivisch zurückgehen, wenn in den Spitzenunternehmen die Löhne nur einen geringen Anteil der Wortschöpfung ausmachen und Kapitaleinkommen stärker am oberen der Einkommensverteilung zentriert sind.

Wirtschaftliche Zweiteilung in Deutschland verhindern, KMU stärken

Dieses Szenario ist sicherlich akuter in den USA, wo sich die Konzentrationsprozesse schon länger vollziehen. In Deutschland sieht es (noch) anders aus: Hierzulande ist die Wirtschaft geprägt von einem breiten Mittelstand, der sich dezentral verteilt. Mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in Deutschland hängen von diesem Mittelstand ab. Viele der sogenannten „Hidden Champions“ sitzen abseits der Metropolregionen und sind trotzdem (oder gerade deshalb) international erfolgreich (gewesen). Doch das ist keine Garantie für die Zukunft. Dieses Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist industriell geprägt und exportorientiert, und damit äußerst anfällig für corona-bedingte Störungen im internationalen Handel. Gibt es keine Liquiditätsreserven, führt die Krise schnell zum Abbau von Stellen und Investitionen. Studienergebnisse zeigen uns, dass im Vergleich zu den großen Unternehmen bei den KMU in Deutschland jedoch bereits seit vielen Jahren viel zu wenig investiert und innoviert wurde – trotz beispiellosen Aufschwungs. Derweil entwickelte sich auch die Produktivität zwischen KMU und großen Unternehmen bereits auseinander. Nun kann man sich leicht ausmalen, wie die Investitionen sich unter den aktuellen Rahmenbedingungen entwickeln werden und welche Folgen dies für die weitere Produktivitätsentwicklung haben wird.

Und noch ein anderes potenzielles Problem kommt hinzu: Denn selbst unter den größten deutschen Unternehmen, die es sicherlich (auch dank staatlicher Hilfen z.B. bei Lufthansa und TUI) durch die Krise schaffen werden, befinden sich nur wenige Digitalkonzerne mit großem Wachstumspotenzial. Vielmehr sind es Automobil-, Chemie- und Pharmaunternehmen, Banken und Versicherer, die traditionell den DAX dominieren. Das dürfte denn auch ein Grund dafür sein, dass der deutsche Leitindex noch immer knapp 500 Punkte unter seinem Vorkrisenniveau notiert. Vor dem Hintergrund eines beeindruckenden Innovationstempos der USA und zunehmend Chinas in einigen Zukunftstechnologien ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in einer digitalisierten Welt also nicht in Stein gemeißelt. Darüber sollte auch ein vergleichsweise milder Krisenverlauf und ein kurzfristiges V nicht hinwegtäuschen.

Um diese grundlegenden Herausforderungen anzugehen, sollte an die akuten Krisenmaßnahmen zur Rettung von Unternehmen und Arbeitsplätzen schnell eine massive Investitions- und Digitalisierungsoffensive angeschlossen werden, die insbesondere dem deutschen Mittelstand und nicht den Superstars hilft, Investitionen auch in Krisenzeiten nicht auf die lange Bank zu schieben. Gelingt es in Zukunft nicht, die Produktivität in der Breite der deutschen Unternehmenslandschaft zu erhöhen, ist nicht nur der heutige Wohlstand in Gefahr, sondern auch seine Verteilung droht ungleicher zu werden.



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