Was die deutsche Wirtschaft jetzt braucht – und was nicht

In der aktuellen Diskussion über eine Lockerung des Lock-down werden oftmals gesundheitliche gegen wirtschaftliche Interessen abgewogen. Das muss nicht sein. Die Politik kann sich für „Gesundheit first“ entscheiden und gleichzeitig wirtschaftspolitisch intelligente Entscheidungen treffen. Ein lange anhaltender konsequenter Lock-down könnte zunehmend auch gesundheitspolitisch problematisch sein. Deshalb ist es an der Zeit, weiter zu denken.

Fundierte Konjunkturprognosen sind im Moment nicht zielführend

In der Corona-Krise werden große Teile der deutschen (wie der internationalen) Wirtschaft heruntergefahren oder sogar stillgelegt. Betriebe, die personenbezogene Dienstleistungen anbieten, sind in weiten Teilen geschlossen, die Industrie leidet unter Störungen ihrer Wertschöpfungsketten, Konsumentinnen und Konsumenten üben sich in Kaufzurückhaltung und viele Erwerbstätige können nicht wie gewohnt ihrer Beschäftigung nachgehen. Unstrittig ist, dass diese Lage bereits zu erheblichen wirtschaftlichen Einbußen geführt hat und weiter führen wird. Verschiedene Institute haben vor dem Hintergrund der neuen Lage ihre Konjunkturprognosen für das Jahr 2020 angepasst und Prognosen und Szenarien erstellt.

Die Prognos AG hat entschieden, zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine quantitative Einschätzung abzugeben. Die Gründe dafür lassen sich unter zwei Überschriften zusammenfassen:

Unsicherheit über die Dauer der Pandemie

  • Die statistische Angabe zur Übertragungsrate von durchschnittlich drei Personen je infizierter Person – ohne Gegenmaßnahmen – scheint verlässlich zu sein. Das muss aber nicht für die Zukunft gelten. Findet man z.B. ein geeignetes Virostatikum könnte das schwere Verläufe und Todesfälle reduzieren.
  • Wenn ein Impfstoff verfügbar ist, kann die Epidemie sehr schnell beendet sein. Schätzungen über den Zeitpunkt gehen aber noch sehr weit auseinander.
  • Zusätzlich zu den epidemiologischen Zusammenhängen wird die Verbreitung des Virus durch politische Interventionen gesteuert. Wie es hier in den kommenden Monaten weitergeht, ist nicht vorherzusagen.

Unsicherheit über die Dauer der wirtschaftlichen Krise

  • Eng verbunden mit der Unsicherheit über die Dauer der Epidemie selbst, besteht Unklarheit über die Dauer des wirtschaftlichen Einbruchs. Das Gefühl sagt, es wird länger dauern, die Daten sagen noch gar nichts. Diese Dauer ist zum einen maßgeblich von politischen Entscheidungen abhängig.

Zum anderen wird entscheidend sein, wie viele und welche Unternehmen die Krise nicht überleben. Gastronomie und Hotellerie verfügen häufig über geringe Kapitaldecken, und selbst kapitalstarke Unternehmen wie die Lufthansa fliegen gegenwärtig nur 5 Prozent ihres bisherigen Passagier-Angebots. Schließlich: Alle beschriebenen Unsicherheiten betreffen in jedem Punkt auch jedes andere Land. Deutschland ist mit einem Offenheitsgrad von rund 90 Prozent sowie intensiven Verflechtungen im Kapitalverkehr sehr abhängig von den Entwicklungen in den Partnerländern.

Die Unsicherheiten sind aktuell also so groß und so vielschichtig wie im Grunde nie zuvor seit dem zweiten Weltkrieg. Deshalb können quantitative Prognosen im Moment nicht valide sein. Aus unserer Sicht ist jetzt die Zeit für qualitative Szenarien. Es kommt darauf an, sehr genau die Stelleschrauben zu identifizieren, an denen sich entscheidet, wie es in der Wirtschaft und somit für die Menschen in Deutschland weitergeht. Daran arbeiten wir und können damit ein guter Ratgeber für die jetzt richtige Wirtschaftspolitik sein.

Worauf es jetzt ankommt, um unsere Volkswirtschaft zu stabilisieren

  • Immer deutlicher werden Fragen zur Abwägung gesundheitlicher Risiken gegenüber wirtschaftlichen Verlusten gestellt. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es deshalb wichtig, die Funktionsfähigkeit sowie die Ausstattung unseres Gesundheitssystems weiter so zu stärken, dass wir uns Lockerungen der gegenwärtigen Restriktionen aus gesundheitlicher Sicht „leisten“ können.
  • Je nach Abgrenzung entfallen auf die Branchen, die nicht negativ von der Corona-Krise betroffen sind (öffentliche Verwaltung, Gesundheitswesen u.a.) 35 Prozent bis 40 Prozent der gesamten Wertschöpfung und Beschäftigung. Das zeigt eine aktuelle Analyse von uns (https://www.prognos.com/presse/news/detailansicht/1928/4c0ffd256a306e0d611ce8f473b96887/). Diese Branchen stabilisieren unsere Volkswirtschaft bereits jetzt. Es ist wichtig, dass sie keine Belastungen durch ausfallende Arbeitskräfte usw. erfahren.
  • Ein großes Problem entstünde, wenn die vorübergehende Schließung von Betrieben zu einer Insolvenzwelle und damit zu massenhaften dauerhaften Betriebsschließungen führt. Die Erholung nach der Corona-Krise würde in dem Fall viele Jahre in Anspruch nehmen und könnte unsere Wirtschaftsstruktur massiv verändern. In diesem Szenario würde auch die Stabilität des Bankensystems ernsthaft gefährdet, mit weiteren Rückwirkungen auf die Gesamtwirtschaft sowie auf öffentliche Haushalte.
  • Unternehmen drosseln ihre Produktion gegenwärtig auch, da ihre Wertschöpfungsketten unterbrochen sind und, teilweise inländische und vor allem ausländische Zulieferer ausfallen. Mittelfristig steckt darin auch eine wirtschaftspolitische Aufgabe, gemeinsam mit den Unternehmen die Resilienz in den Wertschöpfungsketten zu erhöhen.

Wie ein Exit-Stufenplan aussehen kann

  • Voraussetzung für die Wirksamkeit der Kontaktbeschränkungen ist das Verständnis und „Mitziehen“ in der Bevölkerung. Nur so kann das Gesundheitssystem wie notwendig geschont werden. Wichtig ist daher, weiterhin transparent über die Effektivität und Effizienz der Maßnahmen zu informieren. Eine geordnete schrittweise Rückkehr zur Normalität wird spätestens nach Ostern immer dringlicher, sofern die Infektionszahlen stabil bleiben. Das „flatten-the-curve“-Ziel wäre dann zunächst erreicht und die Notwendigkeit der Einschränkungen in der Öffentlichkeit hinterfragt. Der wirtschaftliche und politische Druck wird sprunghaft zunehmen.
  • Der Lock-down sollte daher schrittweise aufgehoben und frühzeitig angekündigt werden. Kriterien können sein:
    • Durch welche Maßnahmen werden besonders viele Arbeitskräfte von ihrer Tätigkeit abgehalten? Beispiel: Pauschale Schließung von Schulen und Kitas. Der Bildungsbetrieb und die Betreuung sind notwendige Bedingung für weitere Maßnahmen.
    • Wo sind wichtige Knotenpunkte in der Wirtschaft, an denen die Produktion besonders intensiv mit anderen Bereichen verflochten ist? Beispiele: Industriebranchen in der Mitte der Wertschöpfungskette. Insbesondere international verflochtene Wertschöpfungsprozesse brauchen durch die unterschiedlichen „Lock-down“-Dauern länger, um wieder in den „Normalbetrieb“ zurückzukehren. Je kürzer die Auszeit, desto einfacher sind die Kettenglieder wieder zusammenzufügen.
    • An welchen Stellen ist die Wiederbelebung von Produktion oder Nachfrage gesundheitlich unbedenklich? Beispiel: Wenig frequentierter Einzelhandel auf großer Fläche wie der Autohandel. Hingegen sind Großveranstaltungen ggf. erst deutlich später wieder möglich.
    • In welchen Branchen sind hohe Insolvenzzahlen bei weiterer Schließung zu befürchten? Beispiele: Einzelhandel, Gastronomie, Hotellerie.
    • Wo kann man mit reduzierter Kundenzahl öffnen? Beispiele: kleine Einzelhandelsgeschäfte, Gastronomie, Hotels, Kinos, Museen, usw.
  • Für die Zeit, nachdem die Restriktionen weitgehend aufgehoben sind, muss ein allgemeines nachfrageorientiertes Konjunkturprogramm geprüft werden. Zu dem Zeitpunkt sind die Produktionskapazitäten noch gering ausgelastet und das Wiederanspringen der Nachfrage kann kurzfristig Unterstützung erfahren. Wichtig dabei ist:
      • Nicht zu früh anfangen mit der Nachfragestimulierung, denn aktuell kann man ja als Verbraucher kein Geld ausgeben.
      • Wenn Steuern gesenkt werden sollen, dann an der richtigen Stelle. Die Einkommensteuer zu senken kann sinnvoll sein, Mehrwertsteuer zu senken nicht.
      • Zielgenau diejenigen unterstützen, die aktuell einen Einkommensverlust erleiden.
      • Nachfrageprogramme sollten nicht zu eng definiert sein, da sie sonst nur Preis- und keine Volumeneffekte haben. Beispiel: Unterstützung von Gebäudesanierung ist konjunkturell sinnvoller als von Gebäudesanierung mit sehr engen energetischen Vorgaben.

Zusammenfassend: Es ist wie mit der Geschichte „Vom Teufel und dem Beelzebub“. Weder dürfen wir das eine lassen – sprich die Ansteckungsgeschwindigkeit zu reduzieren. Sonst erwischt uns „der Teufel“ in der Überlastung des Gesundheitswesens. Noch dürfen wir es verpassen, unser Wirtschaftssystem zu stabilisieren und rechtzeitig und stufenweise wieder zu beleben. Sonst erwischt uns „der Beelzebub“, indem wir unser Gesamtsystem fundamental schädigen. Insofern müssen wir Lösungen für das Paradox der richtigen Geschwindigkeiten finden und uns nach Ostern an ein neues Normal herantasten. Dies wird voraussichtlich kein klassischer Exit sein können, sondern wie ein atmendes System angelegt sein. Dafür gilt:

  • Konsequent bleiben und die erzielten Erfolge in der Viruseindämmung nicht gefährden.
  • Realistisch planen und auf Szenarien statt unkalkulierbarer Prognosen setzen.
  • Prioritäten setzen und die ökonomischen Knotenpunkte und die Nachfrage stützen.
  • Einen kühlen Kopf bewahren und entschlossen handeln.
  • Kommunikation und Aufklärung. Bevölkerung kompetent machen im Umgang mit dem Virus.


Kommentar verfassen